Das Menschenleben in Litlibær

Der Hof war nicht groβ und der Viehbestand entsprechend. Jede der beiden Familien hatte etwa 20 Schafe und eine Kuh, was nur für den Eigenbedarf war. Guðfinnur und Halldóra zogen im Jahr 1917 nach Tjaldtangi, auf die äuβerste Landspitze zwischen den Fjorden Seyðisfjörður and Hestfjörður, um näher an den Fanggründen zu sein. Danach wohnte Finnbogi und seine Famillie allein auf Litlibær. Im fortgeschrittenen Alter überschrieb er den Bauernhof auf seinen Sohn Kristján.

 

Finnbogi war einer der fähigsten Schützen in den Westfjorden und konnte mit der Jagd auf Füchse, Vögel und Robben das Hofeinkommen erhöhen. Fuchsfelle, die man Rauware nannte, waren sehr kostbar. Die häufigsten Vögel, Trottellumme und Tordalk, wurden am Ende des Winters und im Herbst geschossen. Nebst dem Fleisch verwendete man die Daunen, um damit Decken und Kissen zu stopfen. Auch von den Robben wurde alles verwendet – die Haut, das Fleisch und das Fett. Die Felle wurden gegerbt und verkauft.

 

Da beide diese kinderreichen Familien ihre Nachbarn, die oft noch weniger hatten als sie, mit Fisch und Seehundsfleisch tatkräftig unterstützten, leben sie in vielen Geschichten fort. Beide Familien besaßen Ruderboote, was die Grundlage für ihren Erfolg war.

 

Zahlreiche Geschichten haben sich über den Bauern und Meisterschützen Finnbogi bewahrt. Viele darunter sich sind in dem Buch Vaskir menn (Wackere Gesellen) von Guðmundur Guðni Guðmundsson. Hier ist eine der bekanntesten:

 

Es trug sich zu, dass Finnbogi wieder einmal allein unterwegs war, in der Nähe von Bresssker, einem Riff mitten im Ísafjarðardjúp, innerhalb (östlich) von dem Bauernhof Ögur. Da liegen einige Robben gemächlich auf dem Riffe, das bei Ebbe eine Schäre ist. Es gelang ihm, versteckt hinter dem größten Riff, sich den Robben zu nähern. Er hatte da ein Gewehr dabei, obwohl er sonst zumeist eine Schrotflinte benutzte. Er traf zwei Robben mit einer Kugel. Die Kugel ging durch das Herz des einen  und in den Kopf des anderen.

 

Dann ruderte er ans Ufer und nahm das Wildbret aus. Da hörte er ein Geräusch eines Fuchses oberhalb am Hang. Er warf das Messer hin, griff das Gewehr und es gelang ihm, von oben an den Fuchs heranzukommen und ihn zu erschießen. Da wird er eines weiteren Fuchses gewahr und den ereilt das selbe Schicksal. Hier kommt alles zusammen: Rationales Denken, auβergewöhnlich beherztes Handeln und eine hervorragende Treffsicherheit.

 

Im gleichen Buch, Vaskir menn, heißt es auch:

 

Finnbogi war ein guter Seemann, umsichtig, wetterkundig und ein ausgezeichneter Anführer. Alle, die ihn kannten, waren sich einig, dass er ein leidenschaftlicher Jäger war. Er war ein handwerklich geschickt und ein guter Schreiner. Zum Beispiel hat er ein Schachbrett geschreinert und Schachfiguren und war selbst ein guter Schachspieler. Mehr als einmal hat er Preise für seine Lösungen auf Schachrätsel erhalten.

 

Einer der zahlreichen Kinder die an Litlibær erzogen wurde, war Einar Guðfinnson, der später ein landesweit bekannter Unternehmer wurde. Er erzählt seine Erinnungen aus Litlibær in dem Buch Einars saga Guðfinnssonar, das von Ásgeir Jakobsson redigiert wurde:  

 

Der tägliche Kampf von beiden Elternpaaren war endlos, er mit Sense oder Ruder und sie im Haushalt drinnen und oft im Freien, wenn er weg war zur Fischerei. Beide mussten sie sich abrackern von früh bis spät, aber sie mussten auch auf äußerste Sparsamkeit achten, um über die Runden zu kommen mit einer rasch wachsenden Familie. Soweit ich weiß hatten sie mit leeren Händen begonnen.

Das urbare Land, das zu Litlibær gehört, war sehr klein und trug den kleinen Viehbestand nicht, obwohl er nur den Eigenbedarf deckte. Deshalb waren sie auf zusätzliches Heu von anderen Bauern angewiesen und mussten es mit großen Anstrengungen mit ihrem Boot herbeischaffen. Mein Vater musste als Entgelt für das Heu auf anderen Bauernhöfen arbeiten, denn Geld hatte man keines.

 

Die Beschreibung, die Einar bei seiner Jugend auf Litlibær erzählt, ist ohne Zweifel typisch für das Leben der Bauernkinder und ihrer Eltern, inbesondere derjenigen, die sich zur Deckung des Lebensunterhaltes mehr auf das Meer als auf die traditionelle Landwirtschaft verließen. Geben wir Einar Guðfinnsson noch einmal das Wort:

 

In meiner Jugend waren Fischschärme in dem Fjord, Kabeljau, Hering und Kalmar zogen alljährlich in den Fjord. Es gab gute Seehasengründe und Vögel, Robben und Zwergwal in Fülle. Die Hauptaufgabe von uns Buben war, zusammen mit unserem Vater, auf Fischfang zu gehen. Am Ufer hat unsere Mutter uns geholfen den Fang zu tragen, die Eingeweide auszunehmen, zu Klippfisch zu verarbeiten und einzusalzen.

 

Ich erinne mich nicht, dass wir, die Geschwester auf Litlibær, jemals hungrig gewesen wären, obwohl es viele Münder zu ernähren gab und wir guten Appetit hatten, wie eben Bauernkinder, die den ganzen Tag herumlaufen und schon in jungen Jahren mithelfen. Unser Vater hielt uns zur Arbeit an, sorgte aber gleichzeitig dafür, daß wir immer genug Schlaf hatten und genug zu essen.

 

Einar Guðfinnsson wurde allgemein bekannt als Reeder, Fischverarbeiter und Händler relativ früh in seine Laufbahn. Er erinnerte sich daran, dass einige Lebensmittel, namentlich die Butter, ab und zu rationert werden musste und dann durch etwas anderes ersetzt werden musste. Von folgender kleinen Anekdote heißt es, sie sei symbolisch dafür, dass er früh gut feilschen konnte:

 

Zu diesem Zeitpunkt wurde die Butter rationiert und mit Schmalz oder Talg ersetzt, wie in diesen Tagen üblich war. Mein Bruder Sigfús und ich hatten gemeinsam ein bisschen Schmalz bekommen und einen Klecks Butter. Da sagte ich zu meinem Bruder Sigfús, der immer Fúsi genannt wurde. „Du kannst das Schmalz essen Fúsi, dann nehm ich die Butter.»

 

Einer der bekannteren isländischen Dichters des 19. Jahrhunderts war Hjálmar Jónsson. Er hatte den Spitznamen Bólu Hjálmar, nach seinem Bauernhof Bóla. Er sagt in einem seiner Gedichte: «Armut war meine Mätresse.» Einar Guðfinnsson war sich seiner Armut sehr bewusst, als er eine seiner schmerzhaftester Erinnerungen aus seiner Jugend in Litlibær erzählt:

 

Mein Vater ruderte mit uns in seinem Boot «Súgandi». Der Fang in diesem Herbst war sehr gut. Einige Tage vor Weihnachten kam ein Motorboot von Ísafjörður, um die Fische zu holen. Mein Vater reiste mit dem Boot nach Ísafjörður um dieses und jenes für Weihnachten zu kaufen. Ihm wurde gesagt, daß er vor Neujahr keine Ware auslösen könne. Er kehrte nach Hause mit leeren Händen. Da war mein Vater niedergeschlagen.

 

Obwohl Weihnachten nicht so groß gefeiert wurde wie heutzutage, war es doch etwas besonderes und vor allem für die Kinder. Der Grund für die Ablehung war, dass mein Vater trotz des guten Fangs wegen der niedrigen Fischpreise in diesem Herbst beim Kaufmann nicht genug eingelegt hatte, um ein paar Kleinigkeiten für die Kinder auslösen zu können. Der anstrengende Kampf wurde eben nicht immer belohnt.

 

Die große Kinderschar, die auf diesem bescheidenen Bauernhof erzogen wurden, zehrten ihr ganzes Leben von der liebevollen Pflege die ihre Eltern ihnen hatten angedeihen lassen. Trotz der bescheidenen Verhältnisse hatten sie ein gutes Leben und entwickelten Eigenschaften, die ihnen ihr ganzes Leben lang eine gute Wegzehr waren. Tüchtigkeit, Genügsamkeit und soziales Verantwortungsbewusstsein. Es kann daher gesagt werden daß die Worte Einar Gudfinnssons für alle von ihnen zutreffen: “Sie ererbten nicht Reichtümer. Sie erbten Tugenden.”